JOHANNES

Es ist wieder eine dieser eisigen Nächte im russischen Niemandsland. Noch kein Mensch hat uns gesagt, wo wir eigentlich genau sind. Seit knapp vier Jahren hausen wir in diesen grässlichen Holzhütten zwischen Läusen und Flöhen. Unsere Baracke ist notdürftig zusammengezimmert. Sie bietet kaum Schutz gegen die sibirischen Eiswinde, die über das Land jagen. Ärger keimt in mir auf, weil wir uns ergeben haben gegen die Russen. Manchmal wünsche ich mir, einer hätte mich erschossen. Dann wäre Ruhe.

Neben mir keucht Kurt mehr, als er atmet. Ich lege ihm eine Hand auf seinen Unterarm.

 »Fritz.« Seine Stimme ist brüchig. »Grüß mir meine Christel.«

»Red keinen Blödsinn. Wir gehen gemeinsam nach Hause«, flüstere ich ihm ins Ohr und glaube selbst nicht, was ich sage.

 Kurt dreht langsam seinen Kopf zur Seite. Im fahlen Mondschein, der durch die Bretterritzen dringt, sehe ich die Tränen auf seinem Gesicht.

 Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und schließe die Augen. Meine Gedanken wandern in die Heimat. Wie wird es dem Reselchen gehen? Und meinen Eltern? Ob sie etwas von Johannes gehört haben? Der Gedanke an meinen Zwillingsbruder treibt mir eine Gänsehaut über den Körper. Die Bilder des Momentes, als ich ihn verwundet liegen lassen musste, tauchen vor meinem inneren Auge auf. Er kann die Eiseskälte nicht überlebt haben. Ohne seinen Mantel. Den trage ich. Er hat gesagt, ich sollte den Eltern ausrichten, dass er sie liebt. Sie nie vergessen wird. Ich drehe mich um, starre in die dunkle Ecke zwischen Bett und Barackenwand. »Ich hätte ihn nicht aufgeben dürfen«, flüstere ich, und wie so oft beiße ich die Zähne mit aller Kraft zusammen. Und jetzt ist wieder fast Weihnachten. Mutters liebstes Fest. Schon das vierte Christfest in Folge ohne uns. Ich weiß es genau, denn mit einem Bleistiftstummel markiere ich jeden Tag, den ich überlebt habe, am Bettrand. Eintausenddreihundertsiebzehn Striche habe ich bereits gezogen.

 »Weihnachten«, ächzt Kurt, als hätte er meine Gedanken gehört. »Weihnachten wollte ich daheim sein.«

 »Ich auch. Seit vierundvierzig will ich Weihnachten daheim sein.« Mit dem Handrücken wische ich mir durchs Gesicht, drehe mich zur anderen Seite und zerre die verschlissene Decke bis zum Hals. Die Knie ziehe ich eng an meinen Oberkörper. So bleiben auch die Füße einigermaßen warm.

 

»Vsavat! Vsavat! Aufstehen!« Die Stimme des Lageraufsehers fährt mir in den Magen. Mit einem Satz springe ich auf und stehe stramm. Auch aus den gegenüberliegenden Betten hechten die Männer heraus. Kurts Bewegungen hingegen sind so langsam, dass der Aufseher ihm den Knüppel ins Kreuz schlägt.

Ich halte die Luft an, meine Hände ballen sich zu Fäusten.

 »Los, los! Antreten!« Mit dieser Ansage verschwindet der Russe aus unserer Baracke.

 Ich lasse mich auf den Bettrand fallen, knöpfe meine Jacke zu, die ich seit dem Wintereinbruch nicht mehr abgelegt habe. Schnell ziehe ich sie enger und greife nach meinen wollenen Handschuhen. Sie sind das Einzige, was mir von Mutter geblieben ist. Bei meinem Heimaturlaub im Oktober 1944 hat sie sie mir geschenkt. Johannes hat die gleichen bekommen. Wir waren gemeinsam zuhause. Er und ich. Was waren das für schöne Tage. Und jetzt? Schnell straffe ich meine Schultern, klopfe mir mit flachen Händen auf die Wangen. Nur nicht unterkriegen lassen.

 Ich öffne die Barackentür. Die bitterkalte sibirische Luft beißt sofort in meine Wangen. Schon beim ersten Schritt nach draußen nimmt es mir fast den Atem. Kurt röchelt und ich stütze ihn, so gut ich kann. Mit erhobenem Kopf und aufrechter Haltung reihe ich mich ein. Die Russen werfen Brot in die Menge. Mein Arm schnellt nach oben und ich fange einen Brocken. Kurts Kraft reicht nicht einmal, um den Arm zu heben. Ich halte ihm meine Ration hin. Müde schüttelt er den Kopf. Also greife ich nach seiner Hand, drücke ihm das Brot hinein und wende mich wieder den Werfenden zu. Sie haben sich mittlerweile von uns abgekehrt und die kargen Rationen fliegen in die anderen Reihen ausgemergelter Kriegsgefangener. Ich gehe leer aus. Kurt halbiert sein Stück, legt mir einen Teil davon in die Hand, während er den anderen in seinen Mund schiebt. Das Kauen fällt ihm schwer. Ich versuche ein aufmunterndes Lächeln.

 

Unsere Wege trennen sich für die Arbeit. Kurt geht unter Tage und ich muss zum Gleisbau. An Tagen wie heute, würde ich am liebsten mit ihm gehen. Aber ich will mich nicht beschweren. Zumindest kann ich so ein paar der wenigen Sonnenstrahlen erhaschen. Wind jagt über die Felder. Als ich im Gleisbett stehe, atme ich erleichtert auf. Die aufgeschütteten Erdwälle geben ein wenig Schutz. Ich fasse den Pickel fest mit beiden Händen, schwinge ihn nach oben und schlage ihn mit all meiner Kraft in den tiefgefrorenen Boden. Die Spitze bleibt stecken, ich rüttle am Griff, und als sich die Spitze löst, ist das hinterlassene Loch kaum erkennbar. Unzählige Male wiederhole ich mein Tun, ehe sich ein Stück aus der eisigen Erde löst. Ich stütze mich auf dem Stiel des Pickels ab. Hinter mir legen zwei Männer Schienenstücke bereit. Die Wachsoldaten stehen – warm eingepackt – auf dem Erdwall oberhalb des Gleisbettes und scheinen sich angeregt zu unterhalten. Sie beachten uns gar nicht.

 

 Auf dem Rückweg zum Lager höre ich ein Gespräch zweier Mithäftlinge, deren Namen ich nicht kenne. Aber so erfahre ich, dass es Neuankömmlinge im Lager geben soll. Haben die Russen also wieder ein anderes Lager aufgegeben. Eine ungekannte Unruhe macht sich in mir breit. So wie damals, als Johannes und ich in die gleiche Kompanie eingeteilt worden waren, ohne es voneinander zu wissen. Wenn wir doch nur endlich nach Hause gehen dürften. Was wollen die denn immer noch von uns? Noch mehr Leute im Lager bedeutet auch noch weniger Essen. Essen … mein Magen rebelliert. Wieder einmal keimt der Gedanke an Flucht in mir auf. Und doch weiß ich selbst, dass das ein unmögliches Unterfangen bedeutet. Schwer hängen meine Arme herunter. Am liebsten würde ich laut brüllen, doch nicht einmal dafür reicht meine Kraft noch.

 

Beim Abendessen sitzt Kurt neben mir. Immer schwerer klingt sein Atem. Aber er isst. Es gibt Fischsuppe. Saure Fischsuppe. Das Brot, das jeder von uns erhält, ist trocken. Ich esse langsam, denn ich habe gelernt, dass ich dadurch das Gefühl bekomme, satt zu werden. Jeden Bissen kaue ich so lange, bis auch der letzte Rest des dünnen Breis durch meinen Hals wandert. Mein Teller ist noch nicht leer, als zwei Russen durch die Tischreihen auf uns zukommen. Sofort kralle ich mich an meinem Teller fest. Ich löffle schneller, verfolge aus dem Augenwinkel jeden ihrer Schritte. Dass ich schlürfe, ist mir egal.

Doch sie nehmen nichts mit. Sie stellen sich zwischen unseren Tischen auf. Dann öffnet sich die Tür, die kalte Luft klettert an meinen Beinen empor wie Eisblumen an Fensterscheiben. Schritte kommen näher. Langsame Schritte. Und dann treten sie ein. Die Neuen. Ebenso ausgemergelt, wie wir es sind. Eingefallene Wangen, dunkle Augenhöhlen, leere Blicke. Sie müssen sich an der Wand aufreihen, nebeneinander. Dann werden die ersten beiden an einen entfernt liegenden Tisch verfrachtet. Ich beobachte das Treiben eine Weile, wende mich dann wieder meinem Teller zu, leere den letzten Rest, indem ich ihn austrinke. Erst danach schaue ich wieder auf. Immer noch drängen neue Männer in den Raum. Wo sollen die denn alle hin? In unseren Baracken ist doch schon jetzt kein Platz mehr. Ich schüttle fast unmerklich den Kopf, Kurt hustet neben mir. Ich schließe die Augen. Lieber Himmel, nimm mir nicht auch noch den Freund.

Da merke ich, wie er sich aufrichtet. Er packt mich, deutet aufgeregt Richtung Eingang. Ich sehe auf. Unsere Blicke treffen sich. Ich schaue in meine Augen. Der Bruder! Johannes. Weihnachten.

 

 Wie ein Pfeil springe ich auf. Im gleichen Augenblick schaue ich in zwei auf mich gerichtete Gewehrläufe. Meine Knie zittern. Das Herz pocht so heftig, dass ich den Eindruck habe, es zerschlägt mir die Rippen. Mühsam gelingt es mir, die Hand zu heben. Ich deute auf Johannes und Tränen übermannen mich. »Mein Bruder.«

 Der Russe, der am nächsten zu unserem Tisch steht, mustert mich, dann Johannes. Er holt ihn zu sich. Die Angst steht Johannes im Gesicht. Nun winkt der Aufseher mich herbei. Wir stehen vor ihm, ich kann nichts denken und versuche nur, mir meine Unruhe nicht anmerken zu lassen.

 Der Russe zwinkert mir zu. »Deine Brrrrudär?«

 Ich nicke, greife nach Johannes' Hand und als der Russe mir das nicht verwehrt, zerre ich meinen Bruder zu mir. Er fällt mir in die Arme, heult laut auf und jetzt will auch ich nicht mehr stark sein. Tränen bahnen sich ihren Weg. Vor Freude, vor Dankbarkeit. Weihnachten.

 

Johannes liegt zwischen Kurt und mir. Er bibbert vor Kälte. So nah ich kann, rücke ich an ihn heran, schlinge den Arm um ihn. »Jetzt wird alles gut«, raune ich ihm ins Ohr und decke einen Teil des Mantels über ihn. »Ich habe es dir immer gesagt. Wir gehen gemeinsam nach Hause.«

 

17. Dezember 1947, irgendwo in Russland

 

Geliebte Eltern,

 

endlich dürfen wir Euch schreiben. Ja, Ihr lest richtig. WIR!

Johannes ist bei mir im Lager angekommen. Es ist ein Wunder. Weihnachten ist dieses Jahr, auch wenn wir noch immer so weit weg sind, eine kleine Freude. Wir wollen, dass Ihr wisst, wir leben und eines Tages kommen wir heim. Wir denken an Euch, wir geben nicht auf. Zündet eine Kerze am Christbaum für uns an. Wir werden beten und unsere Herzen sind in der Heimat, wenn in der Christnacht der hellste Stern erstrahlt.

 

In Liebe

 

Eure Söhne

 

Johannes und Fritz

 

 

Diese Geschichte ist Teil der Anthologie "Lichter im Advent", erschienen im Rhein-Mosel-Verlag (2018).

 

Im Jahr 2020 gehört die Geschichte zum Autoren-Adventskalender

 

https://www.autoren-adventskalender.de/